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TEXTAUSZUG von Rosa Mayreder

aus Fabeleien über göttliche und menschliche Dinge


Die Stimme Gottes 

   In tiefer Verborgenheit, ganz allein mit sich selbst, lebte die einsame Seele, eingeschlossen in ihren vier Wänden, ohne Freund und Bruder, ohne Gefährten und Gespielen.
   Von ferne her scholl der Lärm des Lebens in ihre Einsamkeit. Verlockend und beängstigend scholl es herauf, ein schwellendes Brausen, das Wunder verkündete und Verheißungen mit sich führte. Wie der Ruf einer Mutter scholl er herauf, die ihre Kinder um sich versammeln will. Dort, in jener Ferne, so dachte die Seele, stand das Leben gütig und herrlich und tränkte aus sprudelnden Quellen die Durstigen und teilte Gaben aus mit mütterlichen Händen an alle, die herbeikamen. O rauschender Brunnen, ich lausche deiner Verheißung; ich möchte meine Hände tauchen in deine Flut und mich forttragen lassen von dem Strome, den du aussendest. Auf deine spiegelnden Schalen möchte ich mich beugen und schöpfen aus deiner Fülle, die du in silbernen Strahlen ausgießest über die Erde.
    Und während sie lauschte, schien die Stimme deutlicher zu werden und beredter, unwiderstehlicher. Sie rief die einsame Seele mit Macht, und etwas antwortete ihr aus der Verborgenheit - das war die Sehnsucht, welche die einsame Seele erfaßt hatte, die Sehnsucht nach der Gemeinsamkeit, nach der großen, verschwenderischen, seligen Gemeinsamkeit, die Wärme gibt und Stärke, die reich macht durch Geben und Empfangen.
    Da sann die einsame Seele darauf, ihre Kammer zu verlassen und hinabzugehen in das Gewühl des Marktes. Aber sie erschrak, wenn sie sich vorstellte, daß sie es wirklich täte. Denn sie fürchtete sich vor lauten Stimmen und harten Fäusten, vor dem täppischen Zugreifen und dem groben Anfassen fremder Hände, sie fürchtete sich vor Blicken, die neugierig sind, und vor Blicken, die gleichgültig sind, vor Blicken, die abweisen, und vor Blicken, die besudeln.
    Doch ihre Sehnsucht war stärker als ihre Scheu; sie wollte der Stimme gehorchen, die sie rief. Und sie verhüllte ihr Gesicht in sieben Schleier, und über ihre Gestalt schlug sie sieben Mäntel, daß kein beleidigender Blick hindurch dringe und niemand sie erkenne in ihrer Verkleidung.
    So ging sie hinunter auf den Markt in bebender Erwartung großer Erlebnisse. Ganz still, ganz eingezogen stellte sie sich in einen Winkel, ganz still wartete sie darauf, daß unter den Vorübergehenden diejenigen kämen, die sich zu ihr gesellten, Freunde und Gefährten, die sie mit sich fortführten zu den erschütternden Kämpfen und jauchzenden Siegen des Lebens, zu den den Festen und Spielen, davon sie träumte. Sie wartete auf diejenigen, zu denen sie gehören wollte, zu den Eroberern in schimmernden Harnisch, die in ihren reinen Händen ein flammendes Schwert tragen und einherziehen mit leuchtenden Angesicht, glühend von heiligem Zorn und heiliger Liebe.
    Aber niemand beachtete sie, niemand kümmerte sich um sie. Es waren lauter Fremde, die da auf dem Markte ihr Wesen trieben; kein Streiter Gottes war unter ihnen, nichts Verheißungsvolles ging von ihnen aus. Auf ihren Gesichtern lag breites Behagen oder wütender Eifer; ihre Fäuste ballten sich drohend oder öffneten sich gierig nach den schmutzigen Münzen, die unablässig von einem zum andern rollten. Immer hallte die Luft von ihrem Feilschen und Fluchen wider, von ihrem heulenden Grimm und ihrer heulenden Lust. Sie begrüßten sich, sie beschimpften sich; sie schlugen sich, sie vertrugen sich; sie schüttelten einander die Hände, sie versetzten einander Fußtritte, bewarfen einander mit faulen Äpfeln; sie wühlten im Kehrricht mit gemeinen Gebärden und wälzten sich grinsend in der Gosse.
    Da stand nun die einsame Seele in ihrem Winkel und betrachtete das Treiben des Marktes wie ein Zuschauer, der sieht, was auf der Bühne vor sich geht, und der nicht mitspielt in dem Stück, das auf jenen Brettern aufgeführt wird. So oft jemand sich ihr näherte, erhebte sie vor Scham und Schrecken; wenn es geschah, daß ein Vorübergehender ein flüchtiges Wort an sie richtete, zog sie sich tiefer zurück in die Verborgenheit ihrer Schleier und Mäntel, erfüllt von Widerwillen und Enttäuschung. Vergeblich horchte sie nach der Stimme, die sie vernommen hatte: kein ahnungsvollen Brausen, kein Tönen wunderbarer Geheimnisse - verschlungen von gemeinen Geräuschen das Wort der Verheißung..(...)

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